Wie man eine Trennung feiert (Leseprobe zum Valentinstag)

Ihre jüngste Tochter war noch keine halbe Stunde aus dem Haus, als Leonhard und Belinda sich in die Augen sahen und nicht wussten, was sie mit dem Rest ihres Lebens anstellen sollten. Siebenundzwanzig Jahre lang waren die Kinder Inhalt und Sinn für jeden einzelnen Tag gewesen. Und diese Zeit war nun zu Ende, von einem Augenblick zum anderen.
„Wenn wir uns wenigstens alt fühlten oder krank wären“, seufzte Belinda ratlos. „Da könnten wir vor dem Fernseher sitzen und Kaffee trinken und die Welt wäre in Ordnung.“
„Ich suche mir neue Horizonte“, behauptete Leonhard nach mehreren Tagen schweigenden Nachdenkens. „Skulpturen schnitze ich aus Baumstämmen, so was wollte ich früher schon tun.“
„Du hast recht“, stimmte Belinda zu. „Normalerweise bin ich ja ziemlich ausgelastet, aber vielleicht könnte ich meine Karriere ausbauen und wenigstens Schuldirektorin werden.“
Danach verstummten sie wiederum und wussten nicht weiter. Statt nach geeignetem Holz zu suchen, verbrachte Leonhard die meisten seiner Leerräume vor dem Fernseher, während sich Belinda zu Hanna-Sophie rettete, ihrer besten Freundin.
„Ihr müsst euch trennen“, riet diese geradeheraus. „Ihr seid ein abgewirtschaftetes Paar. Danach sind neue Horizonte möglich.“
„Siebenundzwanzig Jahre sind eine lange Geschichte“, wandte Belinda ein. „Die wischt man nicht so mir nichts dir nichts beiseite. Getrennt und fertig. Leonhard ist ein guter Mann, ich kann ihn nicht plötzlich hassen und loswerden wollen.“
„Es geht nicht darum, ihn loszuwerden“, erwiderte Hanna-Sophie einfühlsam. „Löse dich einfach von ihm. Verwirkliche dich!“
Sie selbst war fünf Jahre älter als Belinda, seit ebenso langer Zeit geschieden und hielt sich einen erheblich jüngeren Liebhaber.
„Sich lösen? Ohne Streit? Ohne Anwalt und all das Zeug?“
„Du hast es erfasst.“ Hanna-Sophie lachte. „Du kannst es sogar feiern.“
„Was, die Trennung? Wie soll ich denn so was feiern?“ Belinda verstand immer weniger.
„Was weiß ich? Unternehmt was gemeinsam, was ihr noch nie gemacht habt! Holt was nach! Und dann geht ihr auseinander. In Frieden, ohne Geschirrwerfen und Blutvergießen.“
Hanna-Sophies Worte klangen so schön wie weltfremd. Wusste sie tatsächlich, wie man mit derartigen Lebensphasen umging? Belinda war außerordentlich verwirrt, als sie nach Hause zurückkehrte, nicht ohne sich drei verschiedene Ratgeber-Bücher ausgeliehen zu haben.
Da sie nicht fürchten musste, gestört zu werden, denn Leonhard saß gewöhnlich bis in die Nacht hinein vor dem Fernseher, vertiefte sie sich noch am selben Abend in die neue Lektüre. Um Sex ging es da, um ausgefallene Ideen, um frischen Wind, der durch die Schlafzimmer wehen sollte und nicht nur dort.
Hanna-Sophie hatte ihr vermutlich in der Eile etwas mitgegeben, was nicht zu ihrer – Belindas – Situation passte. Trotzdem fand die Leserin die Sache hinreichend spannend und vergnüglich.
Was manche Leute so alles ausprobierten! Fesselspiele, Ölmassagen, tausend Spielzeuge und Telefongestöhn! Ihr Blut pochte hinter den Schläfen, während sie mit dunkelrotem Gesicht Seite um Seite verschlang.
Als sie endlich das Licht ausknipste und bereit war, eine Lesepause einzulegen, ließ sie ihre Fingerspitzen unter das Nachthemd gleiten und begann, ihren Körper zu erforschen. Obwohl sie bereits dreiundfünfzig Jahre alt war, fühlte sich ihre Haut immer noch glatt an. Dabei wurde ihr bewusst, dass Leonhard sie lange schon nicht mehr berührt hatte, jedenfalls nicht so. Und als er endlich ins Bett kam, sich wortlos neben sie legte und augenblicklich zu schnarchen begann, wurde die Sache keineswegs besser.
In dieser Nacht schlief Belinda nicht eine einzige Minute lang. Tränen rannen über ihr Gesicht, während eine beinahe vergessene Lust sie beutelte. Vieles hatte sie verpasst in ihrem Leben und obendrein zur falschen Zeit das falsche Buch zu lesen begonnen.
„Wir müssen uns trennen“, sagte sie am Frühstückstisch zu Leon­hard. „Das ist das Beste, glaube ich.“
„Wenn du meinst“, war dessen gleichmütige Antwort. „Wann sollten wir damit anfangen?“
„Am Wochenende“, schlug sie vor. „Wir feiern das Ganze.“
„Feiern?“
„Ja“, wiederholte sie, während sich ein kaum merkliches Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete. „Wir gehen essen.“
Sie hatte es beschlossen und er war einverstanden. Mit der Trennung und der Feier. Der Rest hing nur noch vom Gelingen ihres Planes ab.
Es war der Sommer, der sie auf die Idee gebracht hatte. Die zärtlichen, warmen Nächte der zweiten Junihälfte. Und die prickelnde, heiße Lust, die gut gedieh in dieser Luft, von dem Buch der Freundin geweckt und ständig neu geschürt.
Belinda konnte nicht sicher sein, ob Leonhard etwas gespürt oder anderweitig wahrgenommen hatte. Er ließ sich jedenfalls nichts anmerken und gab sich wie immer, morgens darauf erpicht, in sein Büro zu gelangen und abends müde und in sich gekehrt.
Sie hatte sich alles zurechtgelegt, noch bevor der Samstag anbrach. Zum Inder würden sie gehen, das stand für sie fest. Erstens war sie schon zwei- oder dreimal dort gewesen, und zweitens gefiel ihr der Restaurantinhaber außerordentlich gut: ein hochgewachsener, braunhäutiger Mann in den mittleren Jahren mit diskretem Benehmen und liebenswürdigem Akzent. Zur Sicherheit ließ sie obendrein zwei Plätze reservieren.
Glücklicherweise hatten die Sommerferien in diesem Jahr zeitig begonnen. Die hektischsten Tage an der Schule waren vorüber und Belinda konnte ein wenig entspannen. An Urlaub wäre ohnehin nicht zu denken gewesen, denn Leonhard war Architekt und seine Auftragslage gab ihm zur Zeit weder Grund zum Jubeln noch Ambitionen für „Sondervergnügungen“, wie er das nannte.
Dann kam der Tag der Feier, und Belinda begann beizeiten, sich schön zu machen. Sie badete in mit Duftölen angereichertem Wasser und pflegte ausgiebig ihre Haut, bevor sie zu Lippenstift und Wimperntusche griff. Zuletzt schlüpfte sie in ihr kurzes, weinrotes Sommerkleid, das mindestens das obere Drittel ihres Busens frei ließ und die gute Hälfte ihres Rückens. Während einer der vergangenen Urlaubsreisen hatte sie dieses Teil erworben und sehr selten nur getragen, sodass sie nicht wusste, ob man es überhaupt noch als modisch bezeichnen konnte. Für ihr Vorhaben spielte dieser Aspekt jedoch nur eine geringe Rolle, wogegen es ihr weit wichtiger erschien, auf Unterwäsche völlig zu verzichten.
Das hatte sie bislang noch niemals in ihrem Leben getan. Über den Effekt, den das ungewohnte Gefühl auslöste, erschrak sie beinahe. Augenblicklich strömte das Blut doppelt so schnell durch ihre Adern, und sie hörte ihr Herz laut klopfen, während ihre Hände zu zittern begannen. Ihre Brüste und deren Spitzen richteten sich dermaßen auf, dass sie fürchtete, der Stoff des Kleides könne reißen. Zwischen ihren Beinen bildete sich heißes Öl, und sie sah sich bei jedem Schritt um, ob sie nicht etwa eine Spur hinterließ.
Wegen der Schuhe überlegte sie eine Weile. Sie liebte die Hochhackigen nicht und fürchtete auch, sich ungeschickt darin zu bewegen. Deshalb entschloss sie sich, barfuß zu gehen. Sollte es der Restaurantetikette widersprechen, würde es der Inder großzügig übersehen.
Als Leonhard meldete, dass er bereit sei und kurz darauf in ihren Gesichtskreis trat, spürte sie mit Genugtuung, wie er den Atem für Sekunden anhielt.
„Du willst tatsächlich feiern“, murmelte er augenscheinlich verwirrt und klimperte mit dem Schlüsselbund.
„Ja“, erwiderte sie kurz, doch ihre Stimme vibrierte, als spräche sie mit dem gesamten Universum.
Dann ergriff sie ihre Handtasche und folgte ihm zur Tür hinaus.
Das weiche Liebkosen des Sommerabends durchdrang sie bis zur letzten Zelle, und sie konnte ein wonnevolles Seufzen nicht unterdrücken. Bereits diesem leichten, streichelnden Wind hätte sie sich hingeben mögen. Die Linien ihres Körpers leuchteten unter dem enganliegenden Stoff.
Leonhard, der sich bereits am Auto zu schaffen machte, zuckte ohne Grund zusammen. Es sah aus, als zittere auch er.
„Ich habe beim Inder Plätze bestellt“, sagte sie leise, als sie neben ihm saß.
„Dachte ich mir“, entgegnete er, startete und fuhr los.
Sicher und unerschütterlich wie immer hielt er das Lenkrad, doch sie wusste, dass auch in ihm eine Veränderung vorging. Ohne ihr einen Blick zuzuwerfen, sog er die Atemluft tief ein und stellte dann heiser fest: „So wie heute warst du noch nie. Und du riechst wie… wie… ich weiß nicht, aber ich könnte verrückt werden…“
Er hatte also Feuer gefangen!
Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten wild und ungezähmt. Verstohlen musterte sie ihn von der Seite und bemerkte jetzt erst, wie leicht auch er gekleidet war. Ein Jackett über dem geblümten Hemd unter Verzicht auf einen Schlips, während der untere Bereich von einer lockeren Freizeithose bedeckt wurde. Sollte er womöglich denselben Gedanken gehabt haben wie sie…?

(Aus: A. H. Buchwald, Geschichten aus der Jakobsmuschel, Teil 2, AndreBuchVerlag 2012; in Wien exklusiv erhältl. Bookpoint 17, Kalvarienberggasse 30, 1170 Wien.)

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